Großartige Absicht, sprachlich zu salopp umgesetzt
Von: WolfgangB
Datum:
24. März 2019
Ein hochangesehener Experte will seine neue Erkenntnis einem ausgewählten Publikum vortragen, um damit die Fundamente des Denkens zu erschüttern und die Welt nachhaltig zu verändern. Doch bevor es dazu kommt, fällt er einem Anschlag zum Opfer. Der Held des Buches erhält gerade noch einige kryptische Hinweise, ehe er fliehen muss. Gemeinsam mit einem fachkundigen Begleiter begibt er sich auf eine Schnitzeljagd, um das Rätsel um besagte Theorie zu lösen. Dabei werden sie von brutalen Söldnern verfolgt, denen die Helden mit viel Glück und List immer wieder entwischen.
Der Plot von Marc Elsberg neuem Thriller "Gier" klingt verblüffend nach Dan Browns "Origin". Im Unterschied zu Brown ist die Begleitung des Helden keine atemberaubend attraktive Frau, und die Verfolgungsjagden muten nicht wie eine touristische Sightseeingtour unter Zeitdruck an.
Die drei bisherigen Romane des Autors, "Blackout", "Zero" und "Helix" zeichnen sich durch die visionäre Wahl einer aktuellen Technologie, in dem das Potential, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, schlummert. Kombiniert mit penibler Recherche und einer spannenden Rahmenhandlung erinnern sie in ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung eher an Frank Schätzing als an Dan Brown.
Diesmal beschäftigt sich Elsberg eingehend mit der globalisierten Marktwirtschaft und makroökonomischen Modellen zu deren Beschreibung. Der Titel verrät auch die beträchtliche menschliche Komponente, die neben der Mathematik berücksichtigt werden muss. Trotz der starken gesellschaftlichen Relevanz könnte man dem Roman also einen thematischne Stilbruch zu den drei Vorgängern attestieren. Der Autor skizziert die Verstrickungen von Politik und Hochfinanz, von weitreichenden Entscheidungen, die in kleinen Kreisen in elitären Salons getroffen werden. Dabei entwirft er ein mögliches Szenario eines globalen Kollapses, der gezielt von einzelnen Akteuren ausgelöst wird, von dem einige wenige enorm profitieren und der ganze Staaten in den Ruin treibt. Gleichzeitig sucht Elsberg interdisziplinär in Gebieten wie Wahrscheinlichkeitsrechnung, Spieltheorie, Finanzmathematik, Psychologie und Soziologie nach Lösungen für die anschaulich dargestellten Schwächen des Systems.
Der Themenkomplex ist alles andere als trivial und selbst für Experten nicht immer leicht verständlich. Die globale Real- und Finanzwirtschaft ist ein Spinnennetz mit einer unüberschaubaren Anzahl an Knoten und Verbindungen. Für den Autor besteht die Herausforderung nun darin, dieses Thema (oder zumindest einen Ausschnitt) für den Rezipienten verständlich zu erklären und damit eine spannende Geschichte zu erzählen, die seine Leser dauerhaft an das Buch fesselt. Elsberg stellt sich dieser Aufgabe, indem er die Rollen zwischen seinen beiden Hauptfiguren klar verteilt: Der 18jährige Jan Wutte ist als Laie konzipiert, der die Fragen des Lesers antizpieren und an den richtigen Stellen Einwände vorbringen soll. Fitzroy Peel ist ein hochintelligenter Analyst mit Berufserfahrung als Investmentbanker, der didaktisch durchdachte, mit zahlreichen Zeichnungen illustrierte Erklärungen liefern soll. Für die erforderliche Spannung sind dazu im kleinen eine Gruppe von Söldnern, von den die beiden verfolgt werden und im großen eine bevorstehende globale Wirtschaftskrise zuständig.
Die Rezeptur scheint erfolgversprechend, allein bei der Dosierung der Zutaten und der Würzung scheint sich Elsberg verschätzt zu haben. Jan agiert so hoffnungslos naiv, dass sich der Autor des unverzeihlichen Vergehens der Leserunterschätzung schuldig macht. Die Verfolgungsjagden durch das nächtliche Berlin scheinen ziellos und immer dann einzusetzen, wenn der Autor die angenommene Aufmerksamkeitsspanne als abgelaufen erachtet. Außerdem wird das Bild von Milliardären, die sich als gottähnliche Feldherren des Kapitals erachten, die Armeen von Börsenhändlern in die Schlacht führen und für die Hungersnöte nur Kollateralschäden sind, nur am Rande angedeutet. Um als furchterregende Bedrohung zu erscheinen, bleibt es jedoch zu farblos, zu abstrakt.
Marc Elsberg ist merklich von dem tiefen Bedürfnis getrieben, dem Leser volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln, um den konventionellen Ansätzen einen neuen, radikal anderen gegenüberzustellen. Dabei ist er sich des theoretischen Charakters der Materie, die mit vielen Analogien dargestellt werden muss, bewusst. So nutzt er ein Gleichnis, um die Möglichkeiten der Verteilung von Vermögen zu illustrieren, das er konsequent den ganzen Roman über bemüht. Um sicherzustellen, dass die Leser dieses auch wirklich verinnerlichen, nutzt er eine Menge an Illustrationen, wie man es in diesem Genre eigentlich nicht erwartet. In einem eindringlichen Dialog bringt er auch den Titel "Gier" unter:
" 'Die Bauernfabel zeigt: Aus Gier sollte man zusammenlegen und teilen!', rief Fitz. " (S. 325)
" ' Wer langfristig mehr erreichen will, darf nicht versuchen, andere übers Ohr zu hauen oder ihnen möglichst viel wegzunehmen! Wer richtig gierig ist, muss den anderen etwas geben! Solidarität, Altruismus oder Wohlfahrt sind keine romantischen Ideen. Ganz unsentimentale, rationale Mathematik beweist: Langfristig sind sie der bessere Deal für alle! ' " (S. 325)
Auf der anderen Seite können die zu Papier gebrachten Sätze oft nicht mit den galoppierenden Gedanken Schritt halten. Wenn auch kurze, abgehackte Sätze eingesetzt werden, um atemlose Action zu verdeutlichen, besteht an vielen Stellen im Roman für dieses Stilmittel keine Notwendigkeit. So etwa wirken Metaphern unfertig, als hätte größere sprachliche Sorgfalt zu viel der wertvollen Erzählzeit verbraucht. Der oft umgangssprachliche Ton der Erzählinstanz ist unangebracht, etwa, wenn Figuren anhand äußerlicher Merkmale ("Ambosskinn", "Messermann", "Hulk") benannt werden
"Sie sah sich die Sequenz noch einmal an. Wutte hatte auf jeden Fall eingesteckt. Sein Gesicht wollte Maja gerade nicht sein." (S. 158)
"Der Vorschlaghammer in Jans Kopf schickte einen Zwillingsbruder in seinen Magen." (S. 341)
"Fitz hatte einen Hunni auf Omis Couchtisch gelegt. 'Kaufen Sie sich einen neuen.' " (S. 223)
Wenn ein umgangssprachlicher Begriff (wie hier der "Hunni") zum Verständnis erst gegoogelt werden muss, ist das dem Lesefluss nicht dienlich. Letztendlich schadet die saloppe Ausdrucksweise auch dem Anliegen selbst: Die mangelnde Präzision der Sprache verleitet (fälschlicherweise) dazu, auf mangelnde Präzision der Gedanken zu schließen. Anders ausgedrückt: Ein hochwertiges Produkt erwartet man nicht in einer billigen Verpackung.
Dazu wirken die Figuren stereotyp, wie mit der Erzählschablone gestanzt und haben augenscheinlich nur die ihnen zugewiesenen Rollen zu erfüllen. Jan hat als Schnittstelle für den Leser übertrieben neugierig zu sein. Fitzroy Peel bewegt sich gewandt wie ein Fisch in der stürmischen See der Hochfinanz und zeigt Anzeichen des Klischess des charmanten Gauners. Ihre Verfolger sind gut ausgebildete, präzise agierende Vollstrecker, im Prinzip aber gesichtslose Fußsoldaten, die lediglich die Helden in Bewegung halten sollen. Schließlich verkörpert die Großmutter einer Aktivistin - verkürzend "Omi" genannt - jene charmante, bodenständige Bauernschläue, die jedes akademische Gedankengebäude mühelos zum Einsturz bringt.
Während des Lesens glaubt man beinahe, die Verantwortlichen des Verlages zu hören, wie sie den Autor dazu drängen, nach seinen drei Bestsellern ein weiteres Mal gesellschaftlichen Sprengstoff in ein Buch zu verpacken. Entsprechend rastlos (und zuweilen auch ratlos) mit einer provisorischen Handlung und klischeehaften Figuren ausgestattet wirkt der Roman. Hätte Elsberg doch dem Druck standgehalten und sich an dem eingangs genannten Frank Schätzing orientiert, sich ausreichend Zeit genommen, um dann seine Leser mit einem wasserdichten und atemberaubend spannenden Opus zu paralysieren ...
Persönliches Fazit
Marc Elsbergs neuer Roman ist durchzogen vom tiefen Idealismus für eine Veränderung im globalen Wirtschaftssystem. Unter dieser ambitionierten Absicht (und vermutlich auch unter den Zeitvorgaben des Verlages) leidet die Handlung. Insbesondere die Erzählsprache wirkt, als würde sie den rasenden Gedanken hilflos hinterherstolpern. Es gelingt kaum, die komplexe Thematik zu einer ähnlich fesselnden Geschichte zu verarbeiten wie jene der Vorgängerbände.