Ein "Elsberg"?
Von: WolfgangB
Datum:
12. April 2021
Was wäre, wenn ein ehemaliger US-Präsident sich für Kriegsverbrechen in seiner Amtszeit vor einem internationalen Gerichtshof verantworten müsste? Der österreichische Autor Marc Elsberg wurde mit Thrillern aus Hightech und Wissenschaft bekannt und wagt sich mit seinem neuen Roman an jene Untergattung aus dem Spannungsfach, die in der Justiz angesiedelt ist.
Elsberg verliert keine Zeit. Gleich zu Beginn wird der ehemalige amerikanische Präsident Douglas Turner auf dem Athener Flughafen in Gewahrsam genommen, die griechischen Behörden müssen über das weitere Vorgehen entscheiden. Die Frage ist nun: Wie reagieren die USA, andere Staaten, die Öffentlichkeit auf diesen beispiellosen Schritt? Der Autor hat sich den Ruf erarbeitet, sich mit fundiertem Fachwissen an die Tastatur zu setzen. Schnell entfaltet sich ein spannendes Szenario, in dem die USA zunächst diplomatischen Druck auf die Beteiligten ausüben. Der griechische Botschafter wird einbestellt, über Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshof (ICC) werden Reiseverbote verhängt und ihre Konten eingefroren. Ein kleines Team von Spezialisten reist nach Athen, um die Verteidigung Turners vor Ort zu organisieren. Eine mögliche gewaltsame Befreiungsaktion als Plan B wird selbstverständlich auch vorbereitet. Als klar wird, dass die Situation nicht innerhalb weniger Stunden gelöst sein wird, brechen die Börsenkurse ein, europäische Staaten verlegen ihre Truppen im Mittelmeer. Auch der Journalismus steht vor einer sehr aktuellen Herausforderung:
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'Warum veröffentlicht es deine Quelle nicht einfach online?'
'Weil es dann in dem Meer von Desinformation da draußen untergehen würde. Da kommst du doch mit echter Information nicht mehr durch. Und selbst wenn, wird sie sofort zerpflückt, umgedeutet, zerteilt, verfälscht ...'
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(S. 99)
Marc Elsberg will ein möglichst umfassendes Bild der dipolmatischen Ausnahmesituation zeichnen. Dafür benötigt er zahlreiche Figuren, denen man in rascher Abfolge begegnet. Durch das anfangs hohe Tempo bleibt nicht immer ausreichend Zeit, mit den zahlreichen Namen und Funktionen auch vertraut zu werden. Rasant auf der Erzählstraße unterwegs, verpasst das Gehirn leicht eine wichtige Abzweigung. innerhalb eines Kapitels sind solche Abzweigungen. Weil aber tpyographische Markierungen fehlen, die wie Hinweisschilder zur Orientierung dienen, braust das Gehirn ungebremst weiter. Nach kurzer Zeit aber wieder umkehren zu müssen, trägt nicht zur Lesefreude bei.
In einem Interview mit einer österreichischen Zeitung bezeichnet sich der Autor als "proamerikanisch". Dennoch fällt es wesentlich leichter, Sympathien für Dana Marin, die Vertreterin des ICC zu entwickeln als für ihre amerikanischen Kontrahenten. Von der Verstärkung aus Den Haag abgeschnitten, findet sie Unterstützung vor Ort. Mit einer bunten Gruppe sympathischer Anarchisten gegen die geballe Macht der US-Geheimdienste anzutreten, das ist doch eine plakative David-Goliath-Situation.
Die emotionale Rede, zu der sich der angeklagte Ex-Präsident vor Gericht hinreißen lässt, wirkt wie ein verzweifelter Versuch, Dana Marins Vorsprung in der Gunst der Leserinnen und Leser noch aufzuholen.
"Wir könnten Ihnen Bilder zeigen. Ganze Hallen voll von Bildern. Von den Opfern der Vigilanten, Warlords, Terroristen und anderen Barbaren, die wir zu stoppen versuchen. Wollen Sie Bilder sehen? Von Hunderten entführter Schulmädchen in Afrika? Wollen Sie Bilder sehen von Abertausenden Menschen, die von Autobomben und Selbstmordattentätern zerfetzt wurden?" (S.341)
Eindringlich versucht er, die Rolle der Weltmacht USA im Wahnsinn der internationalen Konflikte einzuordnen. Damit wirft er jedoch eine entscheidende Frage auf: Warum beschäftigt sich die Strafverfolgungsbehörde im Roman gerade mit den USA? Warum erhebt sie nicht Anklage gegen verbrecherische Regime, Staaten, die weitaus offensichtlicher gegen internationales Recht verstoßen, gegen jene, die Kriege anzetteln? Marc Elsberg setzt sich damit dem Vorwurf aus, den scharfen Wind, der den USA in den letzten Jahren entgegengeschlagen ist, in den Segeln seiner Geschichte zu nutzen. Die Initialen des Delinquenten sind wohl nicht zufällig gewählt.
Nach dem Hochgeschwindigkeitsauftakt verliert die Erzählung an Fahrt. Das griechische Gericht achtet in diesem delikaten Fall penibel darauf, nur ja keinen Fehler in der Prozessführung zu begehen. Sehr ausführlich beschäftigt es sich daher mit der Frage, ob der Angeklagte überhaupt an den ICC ausgliefert werden kann. Die immergleichen Abläufe, das wiederholte Vertagen der Entscheidung kosten unnötig viel Erzählzeit. Die Geschichte handelt zu weiten Teilen in Griechenland. Elsbergs reizvolles Gedankenexperiment bleibt im Ansatz stecken, wirkt nicht vollständig durchgespielt. Denn wie interessant wäre es wohl gewesen, Douglas Turner und die immer nervöser werdende Weltöffentlichkeit beim eigentlichen Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu beobachten? Wie spannend wäre es wohl, den gesamten Prozess mitsamt all seinen politschen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Nebenwirkungen durchzuexerzieren?
Nach dem Umblättern der letzten Seite dürfte wohl auch die Frage hängenbleiben, ob "Der Fall des Präsidenten" ein echter "Elsberg" war. Aber was ist das eigentlich, was ist unverwechselbar typisch für den Autor? Bekannt wurde Elsberg mit dem 2012 erschienenen "Blackout", das vom Zusammenbruch der Stromversorgung handelt. Der Folgeband "Zero" handelt von der algorithmischen Macht von Social Media, und "Helix" von den Möglichkeiten der Gentechnik. Ein fühlbarer Stilbruch folgte 2019 mit "Gier", in dem nicht mehr Naturwissenschaft oder neue Technologien die Handlung vorgaben, sondern die weltweit verflochtene Wirtschaft. (Bereits in der Rezension ist dieser Umstand nicht zu übersehen: https://buecherkaffee.de/2019/11/marc-elsberg-gier-rezension.html) Diese Zäsur ist auch auf dem Cover erkennbar. Während auf den ersten drei Büchern lediglich der jeweilige Titel farblich hervorgehoben prangt, präsentiert "Gier" ein konkretes Objekt, ein Containerschiff. Hier schließt "Der Fall des Präsidenten" und zeigt das Projektil einer Schusswaffe über einem nächtlichen Straßenzug. Die veränderte inhaltliche Gewichtung ist offensichtlich auch dem Verlag bewusst. Mit "Blackout", "Zero" und "Helix" hat sich Elsberg den Ruf als Seismograph für die Bruchlinien zwischen Technologie und Gesellschaft erarbeitet. Die in den Romanen zum Leben erweckten Innovationen wurden zuverlässig zwei Jahre später in den Abendnachrichten mit sorgenvollem Unterton in die Wohnzimmer getragen. "Gier" ist zwar als Roman nicht minder spannend, hat aber Bild des Autors als Wissenschaftsorakel getrübt. Nun verhalten sich neue Ideen und der Drang nach Weiterentwicklung für einen kreativen Geist wie Sonnenlicht für eine Pflanze. Eine wohl etablierte, scharf konturierte Marke ist jedoch von unschätzbarem Wert. Wer sich für Claudia Rossbacher entscheidet, schätzt steirisches Lokalkolorit. Wer Andreas Gruber liest, stellt sich auf nervenzehrende Stunden über dem Buch ein. Würde jemand, der "Blackout", "Zero" und "Helix" gelesen hat, auch den "Fall des Präsidenten" sofort Marc Elsberg zuordnen?
Persönliches Fazit
"Der Fall des Präsidenten" ist ein spannender Justiz-Thriller mit detaillierten, weitreichenden Überlegungen. Allerdings wirkt der Roman wie eine in die Länge gezogene Vorgeschichte zu einem deutlich weitreichenderen Gerichtsprozess. Außerdem scheint Marc Elsberg nicht mehr daran gelegen, seinen Ruf als Seismograph für aufkommende technologische Entwicklungen zu kultivieren.